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Medienmündig

Vorwort: Mut zum zukunftsträchtigen Zögern!

Stellen Sie sich vor, Sie kommen völlig außer Atem eine Treppe aus der Bahnhofsunterführung hinaufgehetzt. Der Zug steht schon abfahrbereit am Bahnhof, die meisten Türen sind bereits geschlossen. An einer der offenen Türen steht jemand und ruft: Beeilen Sie sich, sonst fährt der Zug noch ohne Sie ab! So schnell Sie eben können, rennen Sie auf diese Tür zu und erreichen sie völlig atemlos und gerade noch rechtzeitig. Aber ganz kurz vor dem Einsteigen zögern Sie … Sie sind sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob es der richtige Zug ist. Fährt er überhaupt dorthin, wo Sie hinwollen?

Das ist eine gute Frage! Dieses Buch soll Mut machen, genau solche Fragen an unsere schnelllebige »digitale Gesellschaft« zu stellen. Um in diesen entscheidenden Momenten zu zögern und Fragen zu stellen, muss man sehr mutig sein. Wem nützt die angeblich stetig zunehmende Bedeutung von Computern, Fernsehen, Internet und Co.? Nützt sie uns? Unseren Kindern? Oder den Herstellern dieser Produkte? Worauf zielt überhaupt Medienerziehung? Fördert sie das Bruttosozialprodukt? Bringt sie möglichst effizient medienkompetentes Humankapital hervor? Oder unterstützt und fördert sie wirklich das Wachstum und die Entwicklung zum Erwachsenen, der beziehungsfähig ist, frei denken und selbstbestimmt handeln kann? Es geht um große Entscheidungen: Wie lernen Kinder, wie lernen wir als Erwachsene einen selbstbestimmten und nicht süchtigen Umgang mit Medien? Nehmen Sie sich daher Zeit für dieses Buch. Lassen Sie sich zum Zögern ermutigen.

1. Aufl. 2012, 251 Seiten, Klappenbroschüre
ISBN: 978-3-608-94626-

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Dr. Paula Bleckmann

 

Wir haben Frau Dr. Bleckmann in ihrer Arbeit kennen gelernt und schätzen Sie sehr. Ihr Buch „Medienmündig“ ist aus unserer Sicht eine Medienbibel für den Erziehungsalltag.

Paula Bleckmann, Dipl.-Biol., Dr. phil.
ist Medienpädagogin mit Schwerpunkt Mediensuchtprävention

 

Dank
Ich bin sehr glücklich, so gute Freunde und Kollegen zu haben. Im Dialog mit ihnen haben sich meine Ideen zur Erziehung und Selbsterziehung im sogenannten Medienzeitalter erst entfalten können. Dank gebührt, stellvertretend für viele andere, euch: Silvia Alvarado-Witt, Ulrich Bartosch, Heinz Buddemeier, Eva Corino, Johannes Czaja, Ivan Illich, Edwin Hübner, Michael Myrtek, Judith Ölschläger, Christian Pfeiffer, Uwe Pörksen, Sonja Schlegelmilch-Weis. Danke auch an das Kollegium der Grundschule Wagenstadt und an die über 80 Elternpaare, die mir Zeit für Interviews im Rahmen meiner Doktorarbeit geschenkt haben. Für alles, was jetzt noch falsch ist oder holprig klingt, übernehme ich die volle Verantwortung. Meiner Familie möchte ich danken, weil sie meine Arbeit am Manuskript nicht nur durch ihren Einsatz und ihre Geduld überhaupt ermöglicht, sondern auch inhaltlich bereichert hat.

Und einer jungen Mutter schulde ich noch besonderen Dank, nur weiß ich ihren Namen nicht. Das kam so: Nach einem Vortrag tritt sie auf mich zu und drückt mir die Hand, um sich bei mir persönlich zu bedanken. Erleichtert sei sie und fühle sich nun weniger unter Druck gesetzt. Ich erkundige mich vorsichtig, welche Art von Druck sie meine. Nun, die Anschuldigungen von den Großeltern und den Nachbarn, was sie ihren Kindern da alles vorenthalte, wenn sie die Kleinen nicht an den Fernseher und den Computer lasse, antwortet sie. Ich frage nach, wie alt denn die Kinder seien. Die ältere Tochter ist vier, die jüngere zwei Jahre alt. So weit ist es heute schon gekommen? Diese Begegnung hat mich erschüttert und dadurch zum Schreiben motiviert. Dies geschah an einem Punkt, als ich ernsthaft überlegte, ob ich mir die Nächte am Schreibtisch wirklich zumuten soll, ob ich zusätzlich auf so viele Stunden gemeinsamer Zeit mit meiner Familie, vor allem mit unseren drei wunderbaren und eigenwilligen Söhnen verzichten möchte, nur um eines Buches willen. Diese unbekannte Mutter hat mir eindrücklich vor Augen geführt, wie lohnend das Schreiben von »Medienmündig« ist, auch wenn ich nur ihr und einer Handvoll anderer Eltern Mut machen würde: Mut zum zukunftsträchtigen Zögern, Mut, nicht jedem Zeitgeisttrend blindlings zu folgen. Denn es geht ja um unsere Zukunft, mehr noch um unsere Kinder, die einmal als Erwachsene unser Leben entscheidend prägen werden, wenn wir schon alt sind.
Emmendingen, Januar 2012 Paula Bleckmann

Einleitung: Können wir noch ohne elektronische Medien leben?
Medienmündig werden bedeutet zuallererst, nicht die Kontrolle über unsere kostbare Lebenszeit zu verlieren. Medienmündig sein heißt, souverän über die eigene Zeit verfügen, sich Zeitsouveränität bewahren. Unter Zeitsouveränität verstehe ich die freie Entscheidung, wie viel Zeit wir überhaupt mit Medien verbringen und damit anderen Tätigkeiten entziehen möchten.

Warum ist diese Grundsatzentscheidung so wichtig? Weil eben diese Selbstbestimmtheit bedroht ist: Mit 15 Jahren hat ein deutsches Durchschnittskind bereits 12 000 Stunden vor dem Bildschirm verbracht1 und dabei wohl mehr als 10 000 Morde und 100 000 Gewalttaten gesehen, soweit man US-Erfahrungen auf Deutschland übertragen kann. Ein junger Mann von 15 Jahren verbringt in Deutschland sogar 7,5 Stunden vor Bildschirmen verschiedenster Größe. Dies sind Durchschnittswerte aus einer großen Repräsentativerhebung mit deutschen Schülern der 9. Klasse: 7,5 Stunden Bildschirmzeit pro Tag in der sogenannten »Freizeit«. Somit verbringen Jugendliche mehr Zeit mit Bildschirmmedien als mit irgendeiner anderen Tätigkeit, außer Schlafen. Diese Zahlen verdeutlichen, dass wir Kindern heute nicht mehr den Umgang mit Medien nahebringen müssen. Eher das Gegenteil ist der Fall.

Die Frage, ob wir mit den Medien gut umgehen können, verwandelt sich zunehmend in die Frage, ob wir noch ohne Medien leben können. Ein extremes Beispiel: Im Jahr 2008 verwüstete der Hurrikan »Ike« die Golfküste in den USA und legte vielerorts die Stromversorgung lahm. Aus einem Krankenhaus in Houston wurde in den Tagen danach von Dutzenden Fällen schwerer Kohlenmonoxid-Vergiftung berichtet, die durch Dieselgeneratoren in schlecht gelüfteten Räumen entstanden. Traurige Berühmtheit erlangte dabei der Fall eines Jugendlichen, der den Generatorstrom nicht für »Lebenswichtiges« brauchte, sondern um am Computer spielen zu können – und deshalb an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung starb. So ist der etwas makaber klingende Titel des Artikels zu verstehen: »Dying to play computer games – Fürs Leben gern Computerspiele spielen«. Sind denn die elektronischen Medien für Kinder und Jugendliche heute lebenswichtig?

Hinter dieser Frage steckt mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Was bedeutet »lebenswichtig«? Keine Frage: Fernseher, Gameboy, Computer, Handy können unsere Kinder in ihren Bann ziehen, so sehr, dass sie immer noch mehr davon wollen, dass der Umgang mit diesen Geräten in vielen Familien zum ständigen Streitthema wird, in Extremfällen sogar so sehr, dass sie dafür ihren Vater bestehlen, ihre Mutter tätlich angreifen, Lehrer belügen, Freunde vernachlässigen oder, wie in einem tragischen Beispiel, die eigene Schwester erstechen.

Kann man daraus folgern, dass Kinder und Jugendliche die elektronischen Medien wollen, dass sie sie brauchen, dass sie für sie lebenswichtig sind? Diese Fragen sind weder mit Ja noch mit Nein befriedigend zu beantworten. Genau an diesem Punkt wissen viele Mütter und Väter, Erzieherinnen und Lehrer nicht mehr weiter.

Also müssen wir die Frage anders formulieren: »Wie unterstützen wir in der Erziehung Kinder und Jugendliche darin, selbst zu entdecken, was sie wirklich wollen und was sie wirklich brauchen?« Wirklich wollen. Wirklich brauchen. Selbstbestimmte Entscheidungen setzen eine entwickelte, reife Urteilsfähigkeit voraus. Ein Kind muss eine solche Urteilsfähigkeit aber erst erwerben, was etliche Jahre dauern kann. Kleine Kinder müssen vor Fremdbestimmtheit in sensiblen Entwicklungsphasen geschützt werden, und zwar umso mehr, je kleiner sie sind. Wie können wir diesen Schutz gewährleisten?

Jedenfalls darf man aus den schockierenden Zahlen nicht den vorschnellen Schluss ziehen, Kinder wollten fernsehen oder brauchten Gameboys. Wer ein Kind gut kennt und genau beobachtet, dem gelingt es, momentane Faszination von langfristigem Bedürfnis zu unterscheiden. Ein Kind kann das aber allein und von sich aus oft nicht oder noch nicht leisten. Wenn wir ihm dabei helfen, gelingt es ihm nach und nach immer besser und auch immer selbständiger.

Wenn die dreijährige Claritta nur Bonbons und Eis essen oder der fünfjährige Bruno bei Minusgraden ohne Jacke nach draußen gehen will, ist die Entscheidung für den verantwortlichen Erwachsenen leicht. Hier wollen die Kleinen nach eigener Aussage etwas anderes, als ihnen gut tut, und wir als Erwachsene sorgen dafür, dass sie es nicht tun. Mit den Medien ist es gleichzeitig schwieriger und leichter als mit Bonbons oder Winterjacke: Eine konsequente Entscheidung wird ganz erheblich erschwert, weil die Schädigungen durch Medien meist nur indirekt erkennbar und weniger im Bewusst sein sind als die Schädigungen durch zu viel Süßes oder durch Unterkühlung.

Andererseits ist es aber auch leichter beim Umgang mit Medien als mit Süßigkeiten, weil die Kinder sie überraschenderweise gar nicht so sehr wollen, wie man immer meint. So sieht es jedenfalls aus, wenn man anstelle der Werbebeauftragten der Medienkonzerne oder ihrer Undercover-Agenten in Politik oder Wissenschaft die Kinder selbst fragt. In einer aktuellen deutschlandweiten Repräsentativerhebung von Zehnjährigen war die liebste Freizeitaktivität der Kinder »draußen spielen«, die zweitliebste »mich mit Freunden treffen«. Häufigste Freizeitbeschäftigung ist aber das Fernsehen. Auch unsere Jugendlichen hängen gar nicht so sehr an den Medien, sie sind nicht so medienaffin, wie man uns gern glauben machen will. Wenn man nämlich deutsche Jugendliche dazu befragt, in welchem Medium sie sich am besten ausdrücken können, geben die meisten Jugendlichen nicht etwa an: »per SMS« oder »über Skype« oder »per E-Mail« oder »am Telefon«, sondern, man lese und staune, »im persönlichen Gespräch«. Das bedeutet, dass die Vorlieben und Wünsche der Kinder mit ihren tatsächlichen Verhaltensweisen nicht immer übereinstimmen.

Noch einmal: Was die Kinder und Jugendlichen am liebsten tun, ist in Wirklichkeit nicht dasselbe wie das, was sie am häufigsten tun. Kinder nutzen nicht nur mehr Bildschirmmedien, als ihre Eltern oder Lehrer es gutheißen, sondern sie sind von Bildschirmen so fasziniert, dass sie mehr konsumieren, als sie selbst eigentlich wollen. Dass dies nicht nur für Kinder und Jugendliche zutrifft, wird sich der eine oder andere Erwachsene vielleicht schmunzelnd, vielleicht bestürzt eingestehen.

Zur Zeitsouveränität gehört auch die Fähigkeit, abzuschalten. Dazu müssen wir die Alternativen zum Bildschirm (»persönliches Gespräch«, »mit Freunden treffen«) aber noch kennengelernt haben. Wir sind dabei, das Abschalten zu verlernen, und hier sind ausdrücklich auch die Erwachsenen mit eingeschlossen.

Aber liest man nicht überall, Kinder sollten früh mit Medien umgehen lernen, damit sie medienkompetent werden? Früh übt sich, wer ein Meister werden will? Ganz ohne Frage: Kinder – die Erwachsenen von morgen – sollten auf jeden Fall verstehen, mit Fernsehen, Computer, Handy & Co. gekonnt und selbstbestimmt umzugehen. Medienkompetenz ist in aller Munde, aber sie reicht heute nicht mehr aus. Denn technische Fertigkeiten schützen den Menschen nicht vor der Vereinnahmung als Maschinensklave.

In Bezug auf die Ziele von Medienerziehung vollzieht sich in den letzten Jahrzehnten eine gefährliche Kehrtwende: Das Ziel war ursprünglich die Anpassung der Medien an die Bedürfnisse des Menschen. Lange Zeit war also der mündige Nutzer, der den Medien in seinem Leben und in der Gesellschaft nach eigener Entscheidung Raum und Bedeutung zumisst, Leitgedanke der Medienpädagogik. Nun hat sich unbemerkt dieses Ziel ins Gegenteil verkehrt: Die Vorstellung vom medienpädagogisch optimierten Training des Menschen als Bediener von Maschinen ist in den Vordergrund getreten, und damit die Anpassung des Menschen an die Medien. Was ursprünglich nur ein Medium, also ein »Mittel« war, wird damit zum Selbstzweck, zum Selbstläufer.

Das ist besorgniserregend und verlangt nach einer erneuten Kehrtwende, wieder hin zu einer Erziehung zur Medienmündigkeit. Echte Spielräume schaffen möchte ich als Autorin dieses Buches daher in einem dreifachen Sinne: Pädagogische Spielräume: Eltern und andere pädagogisch Tätige sollten wieder die volle Breite des Handlungsspektrums wahrnehmen, also erkennen, dass sie die Wahl haben. Politische Spielräume: Die Dominanz der Medien in der derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung muss kritisch überprüft werden. Schöpferische Spielräume: Besonders unsere Kinder brauchen, wie wir selbst auch, Raum für kreative Eigentätigkeit und unmittelbare menschliche Begegnung als Basis für die Entstehung von Medienmündigkeit.

Wir danken all jenen, die sich für unsere Stiftung engagieren.